Notorische Putin-Versteher werden es nicht gerne lesen. Ulrich Schmid und Michel Eltchaninoff greifen in ihren erhellenden Büchern über den russischen Präsidenten auf eine lange unterschätzte Methode zurück: Ideologiekritik.
Als Adolphe de Custine 1839 seine Reiseeindrücke aus Russland zu Papier brachte, war die Perspektive deutlich: Russland galt dem französischen Autor als Hort der Reaktion, es warte nur darauf, dass sich ein heillos zerstrittenes Europa ihm ausliefere. Besonders irritierte den Reisenden, wie in Russland die Begriffe wie Wahrheit und Öffentlichkeit ihren Sinn verändern: Über eine Prahlerei zu lachen oder politischem Größenwahn zu widersprechen, gelte als Attentat auf die Sicherheit des Staats. »Hier heißt lügen die Gesellschaft schätzen, wie die Wahrheit sagen gleichbedeutend ist mit: den Staat umstürzen.« In seinem einflussreichen Reisebuch, das das negative westeuropäische Bild vom autokratischen Zarenstaat mitprägte, beschrieb de Custine ein Russland, fernab am Rande des Kontinents gelegen, abschreckend und bedrohlich.
Blickt man nun auf das Rätselraten in Westeuropa über die Ziele und Absichten des russischen Präsidenten Wladimir Putin, dann wird klar, dass sich so viel daran auch nach über 175 Jahren nicht geändert hat; Putin verstört nachhaltig, vor allem sein ausgereiftes System der Propaganda und Mediennutzung. Spätestens seit der russischen Militärintervention in Syrien und dem Einmarsch in die Ukraine ist zudem überdeutlich geworden, dass diesen Präsidenten, der so gerne mit nacktem Oberkörper den sibirischen Naturburschen spielt, ein fataler Hang zur Weltpolitik antreibt. Der imperiale Anspruch des Putinschen Russland mag ökonomisch gesehen ein hoffnungsloser Fall von Selbstüberschätzung sein, was jedoch konsequente Machtpolitik angeht, hat Putin seine westlichen Kollegen ein ums andere Mal übertölpelt und an die Wand gespielt – zuletzt mit der Ankündigung eines russischen Teilabzugs aus Syrien.
Um zu verstehen, was Putin tatsächlich bewegt, liefern zwei jüngst erschienene Bücher reichhaltiges Material und eine Erklärung jenseits des üblichen Herumstocherns im Nebel von mafiösen oder geheimdienstlichen Verstrickungen und vagen biographischen Details. Michel Eltchaninoffs »In Putins Kopf« kann man dabei fast als eine Kurzfassung von Ulrich Schmids »Technologien der Seele« lesen, das ausgehend von Putins ideologischem Kosmos eine veritable Medien- und Kulturgeschichte des jüngeren Russland liefert.
Eltchaninoffs beim Verlag Klett-Cotta erschienener Essay bietet etwas ganz aus der Mode Gekommenes: Ideologiekritik. Und die ist dringend notwendig. Während nämlich das Publikum außerhalb Russlands schon die im Grunde recht banalen Konstanten klassischer Machtpolitik kaum noch zu verstehen vermag, scheitert es erst recht an einem Verständnis der dazugehörigen Ideologie; man geht ihr stattdessen auf den Leim. So wie Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier, der, mit Putins Volten konfrontiert, immer so wirkt, als er hätte er im Schulunterricht den Namen Bismarck verpasst.
Die Entwicklung Putins, bei Eltchaninoff auf eine Reihe von zentralen Stationen reduziert, zeigt eine erschreckende Folgerichtigkeit: Am Beginn stand der scheinliberale Präsident, ein bislang Unbekannter, der sich schnell immer aggressiver gebärdete, erst einen neuen Nationalismus kreierte, um dann ab 2008 mit dem Krieg in Georgien imperialistisch aufzutreten. Ideologische Kernphrasen der Putinschen Herrschaft waren dabei die »Vertikale der Macht« oder, für die Annexion der Krim, Putin als »Sammler der russischen Erde«. Wichtige Ingredienzien der Putinschen Ideologie stammen aus der Gedankenwelt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Da sind vor allem die slawophilen Schriftsteller und Philosophen, die in Fronstellung zu den »Westlern« unter den russischen Intellektuellen die Einzigartigkeit des »slawischen Menschen« behaupteten, dem zusammen mit der orthodoxen Kirche eine Erlöserfunktion für die Menschheit zukäme – Erlösung auch und vor allem vom »westlichen« Liberalismus und Individualismus.
Putin bezieht sich auch gerne auf »Eurasien«, die Öffnung Russlands nach Asien, eine Vorstellung, die unter eher nationalistischen russischen Intellektuellen in den zwanziger Jahren aufkam, als diese versuchten, den zumal im Westen negativ als »asiatisch« konnotierten Bolschewismus in russische Tradition einzuordnen. Das muss alles nicht immer zwangsläufig in allen Teilen zueinander passen – so beißt sich der von Putin geförderte, dezidiert orthodox-christlich konnotierte russische Nationalismus durchaus mit dem imperialen und daher auch multireligiösen eurasischen Vorhaben, auf das Putin ebenso zurückgreift. Aber hier geht es schließlich um Ideologie, nicht um Logik. Putin bedient Sowjetnostalgie wie Zarenkitsch; es gibt nun wieder wie in der guten alten Zarenzeit »Garderegimenter«, aber auch Felix Dserschinski, der Gründervater des sowjetischen Geheimdienstes und Terrorapparates, kam 2014 als Namensgeber einer Truppe des Innenministeriums zu neuen Ehren.
All das sind ideologische Versatzstücke, deren Vermischung vielleicht weniger auf die Postmoderne zurückzuführen ist als bereits auf die ideologisch so fruchtbaren frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Der damaligen Wirrnis von rechten und linken Ideen und Weltentwürfen entspricht es durchaus, wenn man nun unter Putins Lieblingsdenkern auch Carl Schmitt, dem ewig zwischen rechts und links pendelnden »Nationalrevolutionär« Ernst Niekisch oder dem faschistischen Kulturphilosophen Julius Evola begegnet. Putin hat sich aus dem ideologischen Plunder des 20. Jahrhunderts munter bedient, und so sollte es nicht verwundern, dass er unter Anhängern des Front National ebenso seine Fans findet wie unter Ostermarschierern, AfD-Wählern oder Anhängern der Linkspartei. Schließlich kann Putin ja auch bei Matthias Platzeck auf ebenso viel Verständnis und Empathie hoffen wie bei Horst Seehofer. Die Integrationskraft des Putinschen Ideologiegebräus speziell für Deutsche wäre wohl noch eine eigene Untersuchung wert.
Eltchaninoff fasst Putins Gedankenwelt in der Vorstellung einer Sowjetunion ohne Kommunismus zusammen, wobei zwei Prinzipien als besonders wichtig erscheinen: die Idee des Imperiums und die Apologie des Kriegs. So gerüstet macht sich der russische Präsident auf, zur Führungsfigur eines antiliberalen Europa zu werden – jedenfalls in der fabelhaften Welt der Ideologien. Denn Eltchaninoffs Ideologiekritik findet ihre Grenzen im Genre der Ideologiekritik selbst: Angesichts der ganzen zusammengeschusterten imperialen Pläne und Verlautbarungen für Eurasien oder zur Weltrolle der russischen Zivilisation darf man nicht vergessen, dass Ideologien in einem materiellen Raum wirken. Irgendjemand müsste die Verwirklichung all des glitzernden Worttands auch bezahlen können, doch Putins Russland ist vor allem eine Potemkinsche Fassade, materiell fußt das alles nur auf dem Rohstoffboom der Jahrtausendwende.
Die hohe Kunst Putins besteht jedoch darin, wie er sein imperiales Projekt zwischen Pleite und nackter Erpressung verkauft; sehr erfolgreich nicht zuletzt in Europa. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Medienkanäle wie »Russia Today« oder »Sputnik«, an deren Desinformationskakophonie ein Joseph Goebbels seine helle Freude gehabt hätte. Wie diese »Polittechnologien« genau funktionieren, kann man nun in Ulrich Schmids bei Suhrkamp erschienener Studie »Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur« nachlesen. Auch Schmid geht davon aus, Putins Ziel bestehe letztlich darin, Russland geopolitisch dieselbe tragende Rolle zu verschaffen wie dem Zarenreich und der Sowjetunion. Auf die verpasste – und verprasste – Modernisierung in den ersten Jahren seiner Herrschaft musste der Nationalismus und das imperiale Gehabe folgen.
Schmid vermag anhand zahlreicher Miniaturexkurse zu russischen Medienprodukten und intellektuellen Lebensläufen aufzuzeigen, wie innovativ und zugleich altbacken Putin diesen Weg gegangen ist. In den Gesellschaften des »Westens« ist es kaum noch vorstellbar, wie Putin fast wie im Stil des 19. Jahrhunderts Intellektuelle und Künstler zur Schaffung eines ideologischen Kosmos anhält, dessen Bestandteile zwar aus Rumpelkammern geholt sein mögen, die aber auf der Höhe der Zeit kommuniziert werden. Schriftsteller – nota bene Sciene-Fiction-Autoren – sind daran beteiligt, Regisseure, Künstler und neuerdings auch Videospielemacher. Schräge Figuren wie der auch in Europa zu einiger Prominenz gelangte Schriftsteller Eduard Limonow oder der Großideologe Alexander Dugin mit seinen absurden neobyzantinischen Träumen spielen tragende Rollen. In Putins Reich gilt Ideologie eben noch etwas. So erklären sich auch die Bedeutung des »Punkgebets« von Pussy Riot und deren so unbarmherzige Verfolgung durch die Staatsmacht; Putin muss gegnerische Symbolaktionen so ernst nehmen, wie er seine eigenen ideologischen Inszenierungen ernst genommen wissen will.
Ulrich Schmid richtet auch einen Blick auf die Schwierigkeiten, denen Putin bei seinem scheinbar so geradlinigen Aufstieg begegnet ist; Putins Machtaura, die nicht zuletzt auf der konsequenten Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt basiert, hat dafür gesorgt, dass die Schwäche seiner Herrschaft meist verborgen bleibt. Wer erinnert sich noch an die Massenproteste bei seiner Wiederwahl 2012/2013? Putins außenpolitische Aggressionen und sein Destabilisierungsprogramm für Europa haben ihm zwar tatsächlich zeitweilig Traumwerte in Umfragen beschafft, aber er pokert hoch. Er braucht handfeste materielle Anreize, damit ihm sein »Imperium« nicht schnell wieder auseinanderbröselt. Auf Dauer wird da auch die Ideologie nicht helfen, mittelfristig aber durchaus – zumal im Verbund mit ein bisschen Krieg.
Erschienen in der Jungle World 16/16