Zu Tom Hollands „Im Schatten des Schwertes“

Für einen hartgesottenen Salafisten irgendwo in seinem Wüstencamp müsste die Lektüre von Tom Hollands Buch »Im Schatten des Schwertes« über die Ursprünge des Islam und die arabische Expansion einem Albtraum gleichkommen. Der Koran? Vermutlich lange nach Mohammeds Tod geschrieben. Die Hadithen, die gesammelten Aussprüche Mohammeds? Ihre Ableitung von Zeitzeugen ist fiktiv, auch sie sind historisch in einer späteren Zeit zu verorten und sind damaligen politischen Gegebenheiten folgend immer wieder neu- und umgeschrieben worden. Und Mohammed? Man weiß eigentlich gar nichts über ihn – jedenfalls nach den Maßstäben kritisch-rationalen Wissenschaftsverständnisses. Klar erscheint nur eines: So wie es im Koran steht und in zahl­losen Sachbüchern, die auf seinen Erzählungen aufbauen, ist es jedenfalls nicht gewesen.

Was Tom Holland mitteilt, ist im Einzelnen nicht unbedingt neu, Zweifel an der historischen Zuverlässigkeit der kanonischen Texte des Islam kamen bereits im 19. Jahrhundert auf. Holland ist auch kein Fachmann für frühislamische Geschichte, sondern ein englischer Historiker mit ausgeprägtem Sinn für dramatisches Erzählen, aber vermutlich macht genau das sein Buch zu einer – manchmal vielleicht schon etwas zu – unterhaltsamen Lektüre. Vieles bleibt dabei aufgrund der dürftigen Quellenlage Spekulation, aber Holland macht deutlich, wo das gesicherte Wissen endet, und das ist oft verblüffend.

Da ist etwa die Frage, von welchem »Mekka« im Koran eigentlich die Rede ist und wo es gelegen haben könnte. Holland vermutet den damit gemeinten Ort in der Übergangszone zwischen der arabischen Wüste und Palästina. Das immer wieder angeführte Bild vom heutigen Mekka als einem bereits in der Spätantike vielbesuchten, kosmopolitischen Wallfahrtsort in der Wüste hält er jedenfalls für schlicht falsch. Oder die Frage nach den »Kuraisch« und wer damit gemeint sein könnte. Der muslimischen Tradition zufolge, die in unzähligen Büchern über den Islam wiedererzählt wird, als handele es sich um eine unbezweifelbare Tatsache, ist das der Name von Mohammeds Stamm. Nur taucht dieser angeblich so mächtige Clan in keiner zeitgenössichen Quelle auf. Vielleicht, so Hollands Vermutung, wurden als »Kuraisch« in einem syrischen Dialekt auch bloß die arabischen Hilfstruppen der Byzantiner bezeichnet.

Der Nahe Osten als Schlachtfeld jahrhundertelanger Kriege von Römern und Byzantinern gegen das persische Großreich der Sassaniden, das ist die Arena, in der Hollands Geschichte sich abspielt. Es ist eine so umkämpfte wie wohlhabende und von sogenannten Gottsuchern heimgesuchte Landschaft. Da harren syrische »Säulenheilige« zum Lobe Gottes jahrelang auf hohen Säulen aus, während das Christentum zur Staatsreligion mutiert. In Babylonien, auf dem Gebiet des heutigen Irak, wird in jüdischen Religionsschulen der Talmud verfasst und der Rabbi als Leitfigur erfunden. In Persien qualmen derweil die heiligen Feuer der Zoroastrier und mit dem Propheten Mani taucht ein neuer Religionsgründer auf, der zum Verdruss seiner religiösen Konkurrenz eklektizistisch alle möglichen Lehren mischt. In diesem weiten Raum der Spätantike im Nahen Osten, das ist der Kern von Hollands Erzählung, entsteht die bis heute gültige Grundlage des Konzeptes »Religion«.

Und dann machen sich, nachdem die letzten Feldzüge zwischen Byzantinern und Persern ­besonders verheerend verlaufen sind und die Pest schließlich den Nahen Osten nahezu entvölkert hat, aus der arabischen Wüste stammende Hilfstruppen der geschwächten Imperien Byzanz und Persien unabhängig und greifen die alten Reiche erfolgreich an. Sie beginnen sich irgendwann »Muslime« zu nennen, an was genau sie anfangs geglaubt und wie sie sich selbst definiert haben, weiß man eben nicht. Es sind Warlords und sie stammen aus einer Randzone der großen Impe­rien, in der sich diverse Sekten und versprengte Gottsucher aufhalten. Über 200 Jahre später, nach einer erfolgreichen Reichsgründung noch im spätantiken Stil, entsteht im Konflikt zwischen Herrscher und Rechtsgelehrten der Kanon der »muslimischen« Schriften. Darunter sind auch Biographien über den Religionsstifter Mohammed, die dessen Geschichte immer detaillierter und reichhaltiger ausschmücken, je mehr Zeit vergeht. Das ist in der Tat aus Sicht des Historikers eher beunruhigend.

Wie es aber tatsächlich war mit Mohammed und den frühen »Muslimen«, das zu wissen gibt Holland nicht vor. Aber gerade aus dieser dunklen Stelle gewinnt er eine faszinierende Perspektive. Die meist nur polemisch gestellte Frage, ob es denn Mohammed »wirklich« gegeben habe, interessiert ihn dabei nicht recht; da es kein zeitgenössisches Material über den Propheten gibt, schreibt er seine Geschichte schlicht ohne ihn. Überhaupt tauchen die Araber erst im letzten Drittel des Buches auf. Was Holland interessiert und worüber es reichhaltiges Quellenmaterial gibt, ist der spätantike Kontext, in dem eben auch das, was wir heute Islam nennen, entstanden ist.

In Deutschland ist dagegen die Diskussion über die spätantiken – mutmaßlich partiell jüdischen und christlichen – Einflüsse auf den Islam, wen wundert es, in der letzten Dekade eher erbittert und nicht so unprätentiös wie bei Holland geführt worden. Da gab es heftigen Feuilleton­streit über die auf Sprachanalysen basierende Theorie eines Christoph Luxenberg, der hinter dem Koran einen syrisch-christlichen Urtext vermutete. Ihm folgte der katholische Theologe Karl-Heinz Ohlig, der die These vertrat, mit Mohammed sei ursprünglich Jesus gemeint gewesen. Schließlich kam der Numismatiker Volker Popp, der auf christliche Symbole auf frühislamischen Münzen verwies. Einen gewissen Höhepunkt fand diese Debatte, als Muhammad Sven Kalisch, Professor für Islamische Religion, der zum ersten Mal in Deutschland muslimische Religionslehrer ausbilden sollte, die Historizität Mohammeds anzweifelte, worauf ihm Islamverbände gleich wieder das Mandat für den Religionsunterricht entzogen. Kalisch hat in der Folge den Vornamen Muhammad wieder abgelegt und versteht sich nicht mehr als Muslim.

Auf der anderen Seite in dieser Debatte stand die Berliner Arabistin Angelika Neuwirth, deren Projekt »Corpus Coranicum« einer kritischen Koranausgabe zwar ebenfalls auf den spätantiken Kontext des Korans zielt, die sich aber mit ihren Schlussfolgerungen eher bedeckt hält – schließlich möchte man auch weiterhin mit muslimischen Gelehrten kooperieren. Wie ihre Kontrahenten mischt Neuwirth, die gerade den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen bekommen hat, eine kräftige Dosis Ideologie unter ihre wissenschaftlichen Absichten. Sie begreife das »Gründungsdokument des Islam«, so die Preisjury, als einen europäischen Text. Geht es nämlich der einen Fraktion oder zumindest einem Großteil ihrer »islamkritischen« Anhänger letztlich darum, den Koran und damit den Islam als was auch immer zu entlarven, müht sich Neuwirth, und da wird natürlich gerne auch Goethe herbeizitiert, den Koran »als Teil unserer Theologie- und Geistesgeschichte erkennbar zu machen«.

Ob aber diese sicherlich sehr wohlmeinende Absicht zwischen Rabat und Karatschi Anklang findet wird, wird sich erst noch zeigen müssen. Die historisch-kritische Analyse islamischer Texte, die natürlich zu der Erkenntnis führt, dass auch diese Texte historisch gewachsen und »gemacht« sind, gesellschaftlichen Einflüssen unterlagen und immer wieder kompiliert und verändert worden sind, ist für orthodoxe Gläubige bisher ein Affront sondergleichen.

Dass sie diese ganze westliche Diskussion über die Ursprünge des Islam nicht sonderlich interessiert – oder aber dass sie ihr im buchstäblichen Sinn den historischen Boden entziehen wollen – demonstrieren gerade die Saudis in Mekka und Medina. Diese heiligen Stätten des Islam werden ausgebaggert und umgegraben, Hoteltürme, Parkplätze und Einkaufszentren entstehen genau dort, wo sich vielleicht manche Antworten auf frühislamischen Geschichte finden ließen. Im März dieses Jahres war es der mit Abstand älteste Bauteil des inneren Bezirks um die Kaaba in Mekka, der nicht nur demoliert, sondern bis in die Tiefe ausgeschachtet wurde. Entsetzte mus­limische Sachverständige gehen mittlerweile davon aus, dass in Mekka und Medina bereits über 90 Prozent aller archäologischen und historischen Plätze zerstört worden sind.

Das 13 Milliarden Dollar teure Umbauprogramm der saudischen Regierung dient offiziell dem Pilgertourismus, allerdings waren den saudischen Wahhabiten mit historischen Bauten verbun­dene religiöse Orte seit jeher mehr als suspekt. Schließlich könnte sich dort, etwa an Gräbern von »Prophetengefährten«, so etwas wie Götzenverehrung etablieren. Das Programm einer so unhinterfragbaren wie geschichtslosen und mit protzigem Neubaucharme versehenen Religion ist jedenfalls konsequent. Vermutlich werden auch daher viele der mit Lust durchdeklinierten Fragen eines Tom Holland für immer unbeantwortet bleiben.

Erschienen in der Jungle World 45/13