Tausendundeine Terrormiliz

Seit vor über einem Jahr der »Islamische Staat« die Millionenstadt Mossul überrannte, kontrolliert die Miliz jeden Winkel der Metropole. Druckfrische Fachliteratur bestätigt anlässlich dieses Jahrestages alte Klischees, stellt neue Fragen und enthüllt verblüffende Details.

ISIS, IS, der Islamische Staat, das Kalifat, wie auch immer, hat jedenfalls eines geschafft: Die deutsche Sprache um den kernigen Begriff »Terrormiliz« zu bereichern. Die »Terrormiliz« kam quasi über Nacht und wird nachrichtensprachlich so gehandhabt, als handele es sich dabei um einen von alters her feststehenden Begriff wie Autobahnmaut oder Erdbeerjoghurt. In Wahrheit wissen wir definitiv nur eines über die »Terrormiliz«: Sie hat Jürgen Todenhöfer als bisher einzigen nichtmuslimischen Journalisten eingeladen, empfangen und wieder gehen lassen. Muss man eigentlich mehr wissen?

Der Büchersommer bietet mit einer Schwemme von Fachliteratur zum »Kalifat« die Möglichkeit, sich umfassend über jenes merkwürdige Gebilde »Terrormiliz« zu informieren; wobei die eher vertrauenerweckenden Werke diesen Begriff dann doch meiden. Damit ist über Loretta Napoleonis im Rotpunktverlag erschienene »Die Rückkehr des Kalifats« bereits das Urteil gesprochen. Das Büchlein bietet ein perfektes Beispiel für eine bestimmte Sorte unausrottbarer Berichterstattung über den Nahen Osten: ein Reich des Google-Wissens, der Verkürzungen und falschen Bezüge, bloß, dass drei halbwahre Fakten immer noch keinen kompletten Gedanken ersetzen. Man nehme ein bisschen antiimperialistisches Klischee – Öl! –, eine Prise Terrorwarnung und garniere das mit mahnenden Verweisen auf die Verantwortung und die Fehler des Westens. Das erweckt den Anschein tiefer und kritischer Reflexion. Im Übrigen schreibt man bequem der Propaganda des »Islamischen Staates« hinterher. Von da hat Napoleoni auch ihre große These, die »Terrormiliz« sei dabei, »pragmatisch« einen »modernen« Staat aufzubauen. Das Kalifat gehe Partnerschaften mit lokalen Stämmen ein und verteile im Gegensatz zu den alten Herrschern die Gewinne aus der Ausbeutung von Ressourcen. Auf die grausamen Handyvideos von der Abschlachtung eines nordsyrischen Stammes durch die Jihadisten, mit dem es Probleme bei ebenjener Partnerschaft und Ressourcenverteilung gab, ist die Autorin beim Googeln offenbar nicht gestoßen. Diese Propagandafilme richten sich allerdings direkt an die Untertanen des »Kalifats« und nicht an das globale Publikum, daher sehen sie auch gar nicht mehr so ästhetisch und in den Gemetzeldetails liebevoll produziert aus. Als Drohung, was bei Unbotmäßigkeit passiert, erinnern sie an die düstersten Seiten der Diktaturen Saddam Husseins und Assads. Insofern ist der angeblich so innovative Kalifatsstaat auch bloß der neue Aufguss eines uralten Nahostsuds.

Die mit Geheimdienstmethoden vorbereitete Machtübernahme von ISIS in Nordsyrien, wo die Stammesscheichs ihre Treue zum Kalifen dann genauso bekunden mussten wie vorher zum großen Führer Assad, kann man sehr ausführlich in Hassan Hassans und Michael Weiss’ bisher nicht übersetztem Buch »ISIS. Inside the Army of Terror« nachlesen. Hassan stammt selbst aus dem syrischen Abu Kemal, das seit über einem Jahrzehnt als Transferknotenpunkt der Jihadistenrouten zwischen Irak und Syrien dient. Das Buch rekapituliert mit zahlreichen Details die gesamte Vorgängergeschichte des »Islamischen Staates«, die entgegen einer mittlerweile in Deutschland beliebten Umdeutung nicht etwa 2003 mit dem Sturz Saddam Husseins, sondern Ende der achtziger Jahre mit al-Qaida in Afghanistan begann. Hassan und Weiss, die unter anderem im Guardian publizieren, machen in ihrer Betrachtung des nahöstlichen Tableaus unmissverständlich folgende Punkte besonders stark: Den Einfluss des irakischen Ba’athismus auf ISIS, die zentrale Rolle des syrischen Assad-Regimes bei der Organisation des Jihadismus im Irak nach 2003 sowie die verheerende iranische Machtpolitik. Damit spricht »Inside the Army of Terror« einige scheinbar paradoxe Windungen nahöstlicher Politik an, die Beobachter aus dem Westen oft verwirren und zur Übernahme von Propagandaerzählungen bringen: Das Regime von Assad könne, so eine geläufige Meinung, ja gar nicht mit ISIS kooperieren, schneidet ISIS doch Assads Soldaten die Köpfe ab. Und erklären beiden Seite sich nicht fortlaufend gegenseitig zu Todfeinden? Hassan und Weiss zeigen sehr plausibel, wie Assads Geheimdienste die Übernahme des syrischen Aufstandes durch Jihadisten orchestriert haben und wie ISIS bis heute mit Assad kooperiert. Ein weiterer paradox scheinender Erzählstrang durchleuchtet die Unterstützung der sunnitischen Jihadisten in ihrem Kampf gegen die schiitische Zentralregierung des Irak durch das syrische Regime, das selbe syrische Regime, das nun in seinem Überlebensringen auf die Unterstützung der irakischen Schiiten zählt, im Kampf gegen ebenjene Jihadisten, die man einst erst hochgepäppelt hat. Ähnlich verwickelt ist das Verhältnis von sunnitischen Jihadisten und dem Iran. Dass das Abschlachten von Schiiten bei ISIS zur Programmatik gehört, hat den Iran nicht gehindert, mit ISIS zu kooperieren, wenn es opportun erschien und gegen die Amerikaner ging. Das ist alles nur solange widersprüchlich, bis man die konkrete Geschichte und Interessenslage der einzelnen Akteure genauer in den Blick nimmt. Ideologische Behauptungen darf man dabei durchaus ernst nehmen – doch niemals absolut setzen, ohne Blick auf die sich bietenden Möglichkeiten. Jedes profitable dreckige Geschäft, das man unter dem Tisch verhandeln kann, wird in der Region auch getätigt; zumal, wenn es gegen einem gemeinsamen Feind geht, so sehr man sich gegenseitig auch hassen mag. Das ohne Rücksicht auf eigene Scheuklappen zugeben zu können, darin besteht letztlich das ganze Geheimnis guter Nahostberichterstattung.

Aber vielleicht will man auch nicht alle Details bis ins Afghanistan der achtziger Jahre wie bei Hassan und Weiss kennenlernen und ganze Sonntagnachmittage mit ISIS zusammen auf der Couch verbringen. Die Kunst, aus unzähligen Details und Fakten ein gut geschriebenes, klar strukturiertes Buch zu machen, demonstriert Christoph Reuter mit »Die schwarze Macht«, erschienen bei DVA. Das Buch des Spiegel-Korrespondenten kann sogar mit einem markanten Quellenfund aufwarten: Reuter hat die nachgelassenen Papiere eines Strategen von ISIS ausgewertet. Dieser Haji Bakr war Geheimdienstoffizier unter Saddam Hussein und seine Organigramme zum Aufbau des »Kalifats« mit diversen, sich gegenseitig überwachenden Geheimdiensten sind der bisher deutlichste Hinweis darauf, wie stark die ehemalige al-Qaida-Unterorganisation seit ihrer »Irakisierung« 2010 ein bösartiges Vermächtnis von Saddam Husseins Terrorapparat darstellt. Auch die Recherchen Reuters zu dem plötzlichen Erscheinen von Jabat al-Nusra in Syrien im Winter 2011/12 geben zu denken. Ursprünglich als syrischer Ableger der irakischen al-Qaida-Filiale geplant, wurde Jabat al-Nusra vor allem durch einige spektakuläre Bombenanschläge gegen Geheimdienstgebäude in Damaskus bekannt; es spricht viel dafür, dass die Nusra-Front zu diesem Zeitpunkt vor allem ein Produkt des syrischen Geheimdienstes selbst war – in Zusammenarbeit mit ehemaligen irakischen Kollegen der Syrer, wie dem ominösen Haji Bakr. Zu den faszinierendsten, zugleich aber auch betrüblichsten Stellen in Reuters Buch gehört die plastische Schilderung der nordsyrischen Szenerie 2013, wo inmitten von Chaos und Krieg Aktivisten versuchten, die Verwaltung der befreiten Gebiete zu organisieren, während Jihadisten aller Kontinente ins Land strömten, oft um eine Art Abenteuerurlaub zu erleben. Dann begannen plötzlich Entführungen und Morde, zu denen sich niemand bekannte. Es war ISIS, nun in alten Ba’ath-Terrormethoden trainiert, die, ohne sich zunächst zu erkennen zu geben, die Übernahme ganzer Landstriche vorbereitete. Reuter wagt auch einen schwierigen Blick hinter die Kulissen des Alltags im »Islamischen Staat«, der ihm als Journalist zwar verschlossen bleibt, für den er jedoch auf Informanten zurückgreifen konnte. Sein Fazit ist schlicht: In Reich des Kalifen al-Baghdadi dreht sich alles um Kontrolle und Gewalt. Ganz alter Naher Osten eben.

Wer aber nun schon seit jeher der Meinung ist, dass die Amerikaner, das Öl, Kreuzritter und sowieso die permanente Beleidigung aller Muslime an allem schuld seien, der greife besser zu Jürgen Todenhöfers Bestseller »Inside IS – 10 Tage im ›Islamischen Staat‹«. Das Buch ist schlecht. Ein Urteil, das hier nicht überraschen mag. Es gilt auch jenseits von Diskussionen über journalistische Ethik und Todenhöfers Selbstdarstellershow als unermüdlicher Kämpfer für die »Wahrheit«, der von der Propagandakompanie des Kalifen ebenso profitiert hat, wie sie von ihm. Es geht dabei nicht einmal um Todenhöfers politische »Position« oder gar um Ideologisches. Das Buch ist schlecht, weil es sehr viel über Jürgen Todenhöfer erzählt, aber praktisch nichts über ISIS. Nur etwas mehr als ein Drittel des Textes berichtet überhaupt vom Aufenthalt im »Kalifat« selbst. Vorher schreibt Todenhöfer seitenweise den wenig originellen Mailverkehr mit einem deutschen Jihadisten ab. Seine Erläuterungen zur jüngeren Geschichte der Region hören sich an, als sei er ein aus den achtziger Jahren herübergebeamter »Antiimp« – was er ja gewissermaßen auch ist. Wenn es endlich zu den Reiseeindrücken aus dem »Kalifat« kommt, kann Todenhöfer nur wenige Details beisteuern, die man nicht sowieso schon aus allen möglichen Artikeln kennt: Neu ist etwa, dass der stark übergewichtige deutsche Jihadist Abu Qatadah fatalerweise Snickers zum Frühstück isst und dass die Sauberkeit sanitärer Anlagen im Kalifat sich offenbar nicht von der in anderen Regionen des Nahen Ostens unterscheidet. Man erfährt auch, dass die Sprengstoffgürtel der Jihadisten gar nicht so klobig sind, wie Todenhöfer sie sich vorgestellt hat. Er probiert auch mal einen an. Mehr gibt das alles nicht her. An Todenhöfers Buch lässt sich vor allem noch einmal die ungeheure Lücke nachvollziehen, die durch den Tod von Peter Scholl-Latour in der deutschen Abenteuerliteratur entstanden ist. Scholl-Latour war feinster Trash, Todenhöfer dagegen ist bloß ein deutscher Ideologe, der auf der Suche nach »Wahrheit« unermüdlich mit »beiden Seiten« reden will, um »Frieden« zu stiften. Weswegen er auch so gerne Diktatoren und Terroristen interviewt.

Da wartet man doch lieber auf die Lonely-Planet-Ausgabe zum »Kalifat«. Den entsprechenden Dumont-Kunstreiseführer kann man sich wahrscheinlich schenken.

Erschienen in der  Jungle World 27/15